Mein ekstatisches Leben
Von Claude Weill
Ich kann mich noch gut erinnern an dieses spezielle Lebensgefühl, das
mich an meinem 50. Geburtstag erfüllte: „Jetzt will ich es nochmals
wissen. Ins Leben mit all seinen Facetten eintauchen und dabei
herausfinden, wer ich wirklich bin.“ Die folgenden zehn Jahre habe ich
mich, um mit Stanislav Grof zu sprechen, dem „Abenteuer der
Selbstentdeckung“ verschrieben. Ich habe keine Erfahrung und kein
Gipfelerlebnis ausgelassen, wenn diese Erfahrungen meine spirituelle
Neugier befriedigen konnten. Bin aus 3000 m Höhe mit dem Fallschirm in
den sicheren Tod – nein, ins volle Leben hinein gesprungen. Habe beim
Feuerlaufen den Kopf ausgeschaltet und bin in Trance über 800 Grad
heisse Kohlen gewandelt. Bin in den Männerbanden von Peter Schröter
vom weichgespülten Zeitgenossen zum Krieger und Liebhaber mutiert.
Beim Holotropen Atmen in transpersonale Räume vorgestossen, in denen
ich als reines Bewusstseinsteilchen durch den Kosmos gefloatet bin. War
nach einer Quantum-light-breath-Meditation eine halbe Stunde (so wurde
mir nachher gesagt) in einem stabilen (!) erleuchteten Zustand. Bin mit
hohen Dosen LSD und Psilocybin auf die Reise gegangen. Habe mit Tantra
erlebt, wie es sich anfühlt als Shiva mit Shakti Liebe zu machen. Habe mir
in der AUM-Meditation die Seele aus dem Leib geschrien. In der Vision
Quest habe ich viereinhalb Tage fastend und meditierend allein in den
Bergen überlebt und die Vision vom blühenden Erikastrauch erhalten:
Jahre der Ekstase und des Rausches, die zu meinem Leben gehören.
Heute, mit meinen 74 Jahren, bin ich naturgemäss etwas weniger
ekstatisch unterwegs, aber muss auch jetzt noch immer wieder aus mir
heraustreten können, was ja mit dem altgriechischen Begriff ex-hístasthai
genau gemeint ist: aus sich heraustreten, in veränderte
Bewusstseinszustände gehen, ausser sich sein, wild werden. Beim Tanzen,
Holotropen Atmen, beim Sex, auf gelegentlichen psychedelischen Reisen.
Meine ekstatischen Abenteuer wollen heute jedoch mit (immer
längeren!) Ruhe- und Erholungspausen erkauft werden. Regelmässige
Meditation, mehr In-mich-gehen, mich sammeln, konzentrieren, in den
Beobachterstatus gehen - all diese Schritte nach innen nehmen mehr Platz
ein. Damit kann ich gut leben. Auf mein ekstatisches Leben will ich aber,
solange es geht, nicht verzichten.
Wie sagte doch der persische Dichter Rumi:
Achte gut auf diesen Tag
denn er ist das Leben -
das Leben allen Lebens.
In seinem kurzen Ablauf liegt
alle Wirklichkeit und Wahrheit
des Daseins.
Die Wonne des Wachsens
die Grösse der Tat
die Herrlichkeit der Kraft.
Über den Autor
Claude Weill, Jahrgang 1950, lebt in Zürich. Nach dem Studium der Geschichte und
Publizistik an der Universität Zürich arbeitete er einerseits als Journalist und Redaktor für
Schweizer Printmedien, andererseits als Erwachsenenbildner und
Stressbewältigungstrainer. Mit existenziellen Fragen und veränderten
Bewusstseinszuständen beschäftigt sich der Autor seit vielen Jahren. 2016 erschien sein
Buch «In Glücksmomenten bin ich weder jung noch alt – Zwölf Porträts von Menschen
nach der Lebensmitte». 2020 veröffentlichte er bei Edition Spuren, Winterthur, «Elysium
hin und zurück - Mit Psychedelika unterwegs in der zweiten Lebenshälfte». 2022
schliesslich folgte «Das ganze Spektrum - Betrachtungen über die Liebe. Ein Essay».
Weitere Informationen auf www.claudeweill.ch .